Das humanitäre System steht am Scheideweg: Mehr als 300 Millionen Menschen benötigen im Jahr 2025 humanitäre Hilfe. Gleichzeitig beobachten wir einen Rückgang der globalen Hilfszahlungen um 7,1% im Jahr 2024. Gepaart mit der aktuellen Entwicklung – Stichwort Donald Trump und USAID –, droht die Grundlage internationaler humanitärer Hilfe zu erodieren. Die Zahl der Konflikte hat sich im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Naturkatastrophen treten aufgrund des Klimawandels häufiger und verheerender auf. Gleichzeitig wird der Zugang zu Menschen in Not zunehmend eingeschränkt und die Sicherheit humanitärer Helfer ist in vielen Regionen massiv gefährdet.
Was wir derzeit weltweit erleben, ist eine gefährliche und irgendwann fatale Kombination aus einem steigenden Bedarf auf der einen und schwindenden Ressourcen auf der anderen Seite. Ohne ein entschlossenes Handeln der internationalen Gemeinschaft droht das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute humanitäre System zu kollabieren.
Europas besondere Verantwortung
Als drittgrößte Wirtschaftsmacht trägt Europa eine besondere Verantwortung in der globalen humanitären Hilfe. Die Bereitstellung von 1,9 Milliarden Euro an humanitärer Hilfe durch die EU für 2025 ist ein wichtiger Schritt, reicht jedoch angesichts der wachsenden Herausforderungen längst nicht aus.
ADRA Deutschland e.V., das seit seiner Gründung 1987 in über 40 Ländern mehr als 3.000 Projekte der Entwicklungszusammenarbeit erfolgreich umgesetzt hat, fordert die Europäische Union und die Bundesregierung auf, die humanitäre Hilfe als einen Eckpfeiler ihrer Außenpolitik zu verankern und das regelbasierte internationale System zu stärken.
Lokale Akteure als Schlüssel zur effektiven humanitären Hilfe
In Übereinstimmung mit ADRAs Grundprinzip der "Hilfe zur Selbsthilfe" ist die Stärkung lokaler Akteure ein zentraler Ansatz, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren.
Wir arbeiten seit jeher nach dem Prinzip, die lokale Bevölkerung von Beginn an in die Planung und Umsetzung unserer Projekte einzubinden. Diese Erfahrung belegt, dass lokale Gemeinschaften oft die wirksamsten Ersthelfer in Krisensituationen sind. Sie benötigen jedoch verlässliche und flexible Kernfinanzierung, um diese Rolle effektiv wahrnehmen zu können.
ADRAs Forderungen für ein zukunftsfähiges humanitäres System
Auf Basis der Vision für eine gerechte Welt für jeden Menschen fordert ADRA Deutschland e.V. anlässlich des European Humanitarian Forums 2025 von der Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung:
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- Globale Verantwortung übernehmen und ein verlässlicher Partner in einer multipolaren Welt bleiben, der sicherstellt, dass die humanitäre Hilfe ein Eckpfeiler der Außenpolitik ist.
- Aufrechterhaltung einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung, die die Einhaltung des humanitären Völkerrechts garantiert.
- Unterstützung und Förderung einer aktiven und unabhängigen Zivilgesellschaft, sowohl im eigenen Land als auch weltweit. Die Förderung der Menschenrechte, der Demokratie, der Gleichstellung der Geschlechter und der Vielfalt sollte als gemeinsames Gut und wesentliches Ziel anerkannt werden. Die Stärkung von Randgruppen, die Gewährleistung einer gleichberechtigten Teilhabe und die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse aller Geschlechter und unterschiedlicher Gemeinschaften müssen integraler Bestandteil der humanitären Bemühungen sein.
- Anerkennung der lokalen Gemeinschaften als Akteure an vorderster Front, um sicherzustellen, dass sie mehr Verantwortung bei der Bewältigung der humanitären Bedürfnisse übernehmen, z. B. durch Mitsprache in den Entscheidungsgremien.
- Gewährleistung einer verlässlichen und flexiblen Grundfinanzierung für die lokalen und nationalen Akteure, damit sie bei den humanitären Hilfsmaßnahmen eine stärkere Rolle übernehmen können.
- Aktualisierung des internationalen humanitären Systems, um die Akteure vor Ort zu stärken. Erfolgreiche Partnerschaftsmodelle zwischen lokalen und internationalen Akteuren oder Netzwerken lokaler und nationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen im Bereich der humanitären Hilfe müssen auf einem ausgewogenen Machtgleichgewicht und geteilten Risiken beruhen.
Bianca Belger und Carina Rolly, Referentinnen für Policy und Advocacy bei ADRA Deutschland e.V. bewerten das European Humanitarian Forum 2025 nach ihrer Teilnahme. Bianca Belger kommentiert: „Das diesjährige Europäische Forum für humanitäre Hilfe hat mehr Akteure, mehr Dringlichkeit und größere Relevanz als je zuvor zusammengebracht. In diesen schwierigen Zeiten ist es ein wichtiger Ort für einen ehrlichen Dialog und gemeinsames Handeln. Ich bin zuversichtlich, dass die hier geknüpften Verbindungen und Ideen zu einem starken Gefühl der gemeinsamen Verantwortung führen werden.“
Carina Rolly ergänzt: „Das diesjährige EHF stellt die Diskussion über den Humanitarian Reset in den Mittelpunkt, was ADRA begrüßt. Da wir das humanitäre System angesichts zunehmender Fragilität und schrumpfender Ressourcen neu überdenken, muss der Reset sowohl prinzipiell als auch mutig sein. Die Ökologisierung der humanitären Hilfe ist kein Luxus - sie ist eine Notwendigkeit, um sicherzustellen, dass unsere Maßnahmen nicht nur lebensrettend, sondern auch zukunftssicher sind, und muss daher ein integraler Bestandteil des Neustarts sein. Ein Wandel ist möglich, wenn wir Dringlichkeit und Vision miteinander verbinden.“