Das Jahr 2025 hat Millionen von Menschen weltweit vor unvorstellbare Herausforderungen gestellt. Die Zahl und Intensität bewaffneter Konflikte haben sich seit 2010 mehr als verdoppelt und erreichen den höchsten Stand seit modernen Aufzeichnungen im Jahr 1946. Besonders besorgniserregend ist dabei die Situation für Kinder und Frauen: Zwischen 2023 und 2024 vervierfachte sich die Zahl der in bewaffneten Konflikten getöteten Kinder und Frauen gegenüber den beiden vorangegangenen Jahren. Mehr als ein Fünftel aller Kinder weltweit lebt mittlerweile in Kriegs- und Konfliktgebieten.
Hunger erreicht katastrophale Ausmaße – erstmals wurde im Nahen Osten nach dem Integrated Food Security Phase Classification-System (IPC-System) eine Hungersnot festgestellt. Nicht zuletzt, da Zivilisten in Gaza systematisch ausgehungert wurden. Auch im Sudan ist die Hungersnot längst bestätigt, und in Ländern wie Südsudan, Haiti, Mali und Jemen besteht in diesem Zusammenhang höchster Alarmzustand. Zudem leiden Millionen Menschen beispielsweise in Afghanistan, Myanmar und an akuter Unterernährung. Diese genannten Beispiele sind nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs in Sachen humanitärer Notlagen und Katastrophen auf der Welt.
Erschreckende Zahlen, die zum Handeln auffordern
Die unterzeichnenden Organisationen weisen auf ein alarmierendes Ungleichgewicht hin: Die weltweiten Ausgaben für Rüstung erreichten 2024 einen Rekord von 679 Milliarden US-Dollar. Das entspricht dem Achtzehnfachen der gesamten weltweiten humanitären Hilfe im gleichen Jahr. Zudem wurde und wird bei der humanitären Hilfe massiv gekürzt.
Besonders dramatisch sind die Auswirkungen auf Frauen, Mädchen und Kinder. Allein im Jahr 2024 stieg sexualisierte Gewalt gegen Mädchen um 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während konfliktbezogene sexualisierte Gewalt zwischen 2022 und 2024 um 87 Prozent angestiegen sind. Weitere alarmierende Zahlen: 58 Prozent der weltweiten Müttersterblichkeit, 50 Prozent der Todesfälle von Neugeborenen und 51 Prozent der Totgeburten 2023 sind in nur 29 Ländern mit humanitären Krisen festzustellen.
Radikale Hilfskürzungen verschärfen die Krise
Ein zunehmendes Kernproblem ist der massive Rückgang der Finanzierung von humanitärer Hilfe. Fast die Hälfte aller von Frauen geführten Organisationen fürchtete im März 2025, ihre Arbeit einstellen zu müssen. Eine aktuelle Umfrage von UN Women zeigt, dass fast 100 Prozent der Zivilgesellschafts- und Frauenrechtsorganisationen von Kürzungen betroffen sind – für drei Viertel davon sind die Auswirkungen erheblich.
Besonders betroffen von diesen Kürzungen sind lokale und nationale Organisationen, die meist die ersten Helfenden vor Ort sind. Über die Hälfte der befragten lokalen und nationalen Organisationen verloren 40 Prozent ihrer Budgets für Kinderschutzmaßnahmen. Noch dramatischer: Geflüchteten geführte Organisationen erhielten 2024 nur 49 Millionen US-Dollar an Finanzierung – ein verschwindender Bruchteil dessen, was nötig wäre, um humantäte Hilfe aufrecht zu halten.
Forderung nach systemischer Reform
Die unterzeichnenden NGOs – darunter ADRA Deutschland e.V. – fordern eine grundlegende Umgestaltung des humanitären Systems. Die Zentralforderungen sind:
- Vollständige, zeitnahe und qualitativ hochwertige Finanzierung des Global Humanitarian Overview (GHO) 2026 durch alle Geber, einschließlich neuer staatlicher und privater Akteure, multilateraler und internationaler Finanzinstitutionen.
- Stärkere und direkte Finanzierung lokaler und nationaler Organisationen, insbesondere von Frauen, Geflüchteten und Menschen mit Behinderungen geführter Organisationen, als zentraler Bestandteil der humanitären Intervention.
- Konsequente Umsetzung von Lokalisierung und gleichberechtigten Partnerschaften: Kompetenz- und Ressourcenverschiebung zu lokalen Akteuren, inklusive einer Neugewichtung der Rollen internationaler Organisationen hin zu „Enablern“.
- Reduktion kostenintensiver Intermediärstrukturen in der humanitären Finanzierung, sowie Priorisierung von Akteuren mit nachweislich fairen, transparenten und langfristigen Partnerschaften.
- Ausbau von flexibler, mehrjähriger und qualitativ hochwertiger Finanzierung, insbesondere über unterschiedliche, auch von NGOs verwaltete Fondsstrukturen, um planbare, nachhaltige Programme zu ermöglichen.
- Deutlicher Ausbau von wirksamen Cash-Programmen und anderen evidenzbasierten, effizienten Ansätzen, die Leben retten und Würde stärken.
- Verbindliche Zielvorgaben für UN-länderbasierte Fonds, dass 70–100% der Mittel an lokale und nationale Organisationen gehen, mit ambitionierten Quoten für Frauenorganisationen und radikal vereinfachten Verfahren.
- Systemreform hin zu einem menschenzentrierten, schlankeren, agileren und inklusiveren humanitären System, das Komplementarität statt Konkurrenz fördert und gegenüber betroffenen Gemeinschaften rechenschaftspflichtig ist.
- Konsequente Umsetzung des „Nexus“: bessere Verzahnung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Friedensförderung und Klimapolitik, insbesondere durch mehrjährige Planungszyklen in langanhaltenden Krisen und mehr Mittel für fragile, konfliktbetroffene Staaten.
- Politische Maßnahmen zur Prävention und Beendigung von Konflikten sowie zur Bekämpfung der Ursachen von Krisen, einschließlich verstärkter Investitionen in Frieden, Klimaschutz und Resilienz statt reiner Reaktion auf Notlagen.
- Klare politische Verteidigung humanitärer Normen und des humanitären Völkerrechts: Unterstützung von Initiativen zur Einhaltung und Rechenschaft, energisches Vorgehen gegen Straflosigkeit und Schutz von Zivilpersonen sowie humanitärem Personal.
- Klare Zurückweisung von ausgrenzenden und delegitimierenden Narrativen und eine aktive politische Kommunikation für Solidarität, Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion und Menschenrechte.
ADRA Deutschland e.V. verpflichtet sich
Als Unterzeichnerin dieser Erklärung bekräftigt ADRA Deutschland e.V. ihre Verpflichtung, in dieser Krise des humanitären Systems handlungsfähig zu bleiben. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Hilfe an die Menschen kommt, die sie am dringendsten brauchen – unabhängig von Verwaltungsstrukturen oder politischen Grenzen.
„Wir können nicht tatenlos zusehen, während die Mittel für humanitäre Hilfe schrumpfen und die Notlagen zunehmen", begründet Christian Molke, Vorsitzender des Vorstands von ADRA Deutschland e.V. die Unterzeichnung. „Das System muss reformiert werden – mit lokalen Akteuren an der Spitze und mit echtem Engagement für die Würde und Sicherheit der Menschen, denen wir dienen."
Hintergrund
Der Global Humanitarian Overview wird jährlich vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) veröffentlicht und bietet einen umfassenden Überblick über die globalen humanitären Bedarfe und Prioritäten für das kommende Jahr. Die gemeinsame NGO-Erklärung zeigt das Engagement des internationalen Hilfssektors, die am meisten gefährdeten Menschen zu schützen und für eine gerechtere, effizientere Architektur humanitärer Hilfe zu kämpfen.
Die unterzeichnenden Organisationen stammen aus allen Kontinenten und Sektoren und repräsentieren lokale, nationale und internationale Netzwerke. Neben ADRA Deutschland e.V. unterzeichneten unter anderem Welthungerhilfe, Oxfam International, Save the Children, Islamic Relief, Caritas Internationalis und viele weitere führende Hilfsorganisationen.
Dokumente: Hier die Stellungnahme im englischen Original und in der deutschen Übersetzung.
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